Tagebuch #1

Mein früheres Ich zur „Neuen Wehrpflicht“

Heute morgen hat mich der Radiowecker mit dem Pressespiegel von Deutschlandfunk geweckt. Thema „Neue Wehrpflicht.“ Alle 18-Jährigen bekommen jetzt einen Fragebogen zugeschickt, sind verpflichtet, den auszufüllen. Ob sie in den Krieg ziehen würden, werden sie da gefragt. Antworten sie „Ja“, müssen viele von ihnen zum Militär, im Zweifel an die Front. Da ist mir eingefallen, was mein früheres Ich im Alter von 13 Jahren aus mir heute nicht mehr erinnerlichen Günden in sein Tagebuch geschrieben hat.

Mein heutiges Ich würde den ollen Marx ins Tagebuch schreiben: „Der Arbeiter kennt kein Vaterland.“ Es wäre das gleiche, aber die Handschrift wäre vielleicht etwas eleganter. 

Die Fragebogenidee stammt von einem Sozialdemokraten, Pistorius, Minister der Verteidigung. Die Sozialdemokraten haben früher auch mal Marx gelesen. Aber das ist 150 Jahre her.

Im Pressespiegel kritisieren meine Journalistenkolleg*innen die Fragebogenidee von Pistorius. Es sei nicht weitgehend genug. Nur für die Jungs sei es verpflichtend, nicht für die Mädchen. Das sei keine Gleichberechtigung.

Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin? In allen Ländern gleichzeitig? Unvorstellbar. Stattdessen Zeitenwende.

„Ich will mein Land verteidigen“, sagte ein Junge gestern im Fernsehen, gefragt, wie er auf diesen Fragebogen reagieren würde. „Mein Land“. Es hat funktioniert, diese Erzählung mit den Nationalstaaten, die uns was Gutes bringen würden, weshalb wir uns mit ihnen identifizieren sollen, statt überall grenzenüberschreitend gemeinsam alle unsere Herrschaftsformen überall auf der Welt zu hinterfragen. Wach, kritisch, aufmerksam und um des lieben Friedens Willen. 

Bevor das Herrschaftsregime in Russland ihren zu Nationalbürgern erzogenen Menschen befohlen hat, Menschen in der Ukraine zu überfallen und in Massen zu ermorden, hatte die Welt die Augen davor verschlossen, dass Imperialismus nicht vorbei ist, dass in Staatenkonkurrenz und Patriarchat das Potential für Krieg, Elend und Unterdrückung tief eingeschrieben ist. Hat sie immer noch verschlossen.

Über mich

Herzlich Willkommen. Hier schreibt Sabine Nuss, Publizistin und Autorin, über die Welt des Kapitals, über Arbeit und Natur, über das Privateigentum, aber vor allem: Wie alles mit allem zusammenhängt, wie es uns bewegt, wie wir es bewegen. Manchmal auch über Alltägliches.

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