Das Interview erschien in leicht gekürzter Fassung am 10. Mai 2024. Hier können Sie die Langfassung lesen:
Liebe Sabine Nuss, meinen Glückwunsch, dass Ihr Buch „Keine Enteignung ist auch keine Lösung“ vergriffen ist. Weshalb haben Sie sich entschieden, keine bloße zweite Auflage zu veröffentlichen, sondern gleich ein neues Buch zu schreiben?
Das Enteignungsbuch ist schon ein Jahr vergriffen. Erschienen ist es im Herbst 2019. Damals hatte die Berliner Bürgerinitiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« gerade die erste Hürde des von ihr organisierten Volksbegehrens genommen. Zwei Jahre später haben sich dann tatsächlich über eine Million Menschen – das waren waren 59,1 Prozent der gültigen Stimmen – für die Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen ausgesprochen. Es ist also eine Menge passiert seither.
Hat sich vor diesem Hintergrund Ihr Fokus verändert?
Ja, klar. Die Kampagne war mit dem Enteignungsbegriff aufgetreten, weil das der Wut der Mieterinnen und Mieter entsprach. Enteignung ist kein Kuschelbegriff, Enteignung polarisiert. Die juristische Grundlage, auf die sich die Kampagne bezieht, ist aber nicht Artikel 14 Absatz 3 im Grundgesetz, der die Enteignung ja durchaus vorsieht. Es ist ja gut bürgerliche Praxis, dass Leute enteignet werden für Kohleabbau oder Straßenbau. Die Kampagne beruft sich aber auf Vergesellschaftung, das ist der Artikel 15 im Grundgesetz. Das ist keine Enteignung.
Aber war das seinerzeit, als Sie ihr Buch geschrieben haben, nicht bereits bekannt, dass sie sich auf Artikel 15 bezieht?
Ja, aber das drang kaum durch im öffentlichen Diskurs. Erst mit dem zunehmenden Erfolg der Kampagne hat sich das verschoben. Nach der erfolgreichen Abstimmung hatte der Senat eine Expertenkommission ins Leben gerufen, die prüfen sollte, inwieweit die Vergesellschaftung verfassungskonform geht. Und diese Kommission hat nach einem Jahr Prüfung gesagt: Ja, es ist verfassungskonform und ja, es würde zur Mietensenkung beitragen. Die Kampagne hat Artikel 15 aus dem Dornröschenschlaf gerissen. Diese Formulierung habe ich bei einem Verfassungskommentatoren entdeckt, der das vermutlich nicht positiv meinte. Aber man sieht, seit meinem Buch hat sich der Wind gedreht, weg von Enteignung, hin zu Vergesellschaftung. Mittlerweile gibt es Konferenzen, es werden bald noch mehr Bücher zum Thema erscheinen, es gibt neue Initiativen, die sich die Berliner Kampagne zum Vorbild nehmen. „RWE & Co enteignen“ oder „Hamburg enteignen“, auch sie beziehen sich auf Artikel 15, kürzlich bekam ich sogar eine Anfrage von einer Initiative namens „Vergesellschaftet Bayern“. Es sieht so aus, als ob der aktuelle Vergesellschaftungshype die Lücke füllt, die der sozialen, progressiven Bewegung lange gefehlt hat, eine Vision, die verbinden kann, statt zu trennen und die nicht im „Anti“ gefangen bleibt.
Deshalb ist Vergesellschaftung jetzt auch der neue Fokus in Ihrem aktuellen Buch?
Das Buch zieht diese Entwicklung gewissermaßen nach. Ich hatte in meinem damaligen Enteignungsbuch den Fokus auf der Frage, welche Vorstellungen von Eigentum sich eigentlich hinter der Kritik und Empörung über Enteignung stillschweigend verbergen. Man stößt hier relativ schnell auf eine sehr stark verbreitete Ideologie, wonach privates Eigentum die beste aller möglichen Welten garantiere, eine Weltsicht, in der nur binär gedacht wird: Privateigentum versus Gemeineigentum. Und Letzteres steht für Stagnation, Misswirtschaft, mangelnde Effizienz, politische Unfreiheit. Diese enge Denkwelt habe ich auseinandergenommen. Das wird man im neuen Buch auch immer noch finden, ich habe diesen Teil aber gekürzt und teilweise präzisiert. Ich finde ihn wichtig, weil diese Ideologie so allgegenwärtig ist: Wir können alle potentiell Eigentümer sein, wir sind frei uns zu entfalten, wir sind alle gleich berechtigt dies zu tun, also Verträge einzugehen, unsere Arbeitskraft zu verkaufen, etc. Ob und wieviel Eigentum wir anhäufen können, liegt daher ganz an uns selbst. Jeder ist seines Glückes Schmied. Und das wird positiv gesehen, denn indem der Einzelne seinen Nutzen steigert, steigert er den Gesamtnutzen. Diese Anschauung repräsentiert den Kern bürgerlicher Ideologie.
Wie ziehen Sie den Bogen von der Ideologiekritik zur Vergesellschaftung?
Indem ich kritisiere, wie die Welt betrachtet wird, unterstelle ich ja, dass sie anders funktioniert als wahrgenommen. Damit bin ich bei der Analyse des Privateigentums, ohne die kann ich meines Erachtens den Vergesellschaftungsartikel im Grundgesetz gar nicht auslegen. Artikel 15 besteht ja nur aus zwei Sätzen, im Kern besagt er, dass Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung … in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden können. Da sollte man schon eine Vorstellung davon haben, was Privateigentum ist, wenn es in Gemeineigentum überführt werden soll. Die allermeisten Leute aber denken Privateigentum nur als eine juristische Kategorie, es wird auch oft mit persönlichem Eigentum verwechselt. Die ökonomische Dimension von Eigentum geht in der Regel völlig unter. Und was Gemeineigentum ist, also, was eigentlich Vergesellschaftung ist, da sollte man auch nicht meinen, dass das so selbstverständlich ist. Artikel 15 wurde historisch nie umgesetzt. Es gibt keinen Präzedenzfall.
Sie sprechen in Ihrem neuen Buch von „Vergesellschaftung 2.0“. Wie meinen Sie das?
Vergesellschaftung war die Kernforderung der Arbeiterbewegung in der Novemberrevolution. Der Höhepunkt der Debatte liegt damit etwas mehr als 100 Jahre zurück. Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs ist sie angesichts des Wohlstandsversprechens der Marktwirtschaft und dem dann folgenden Erstarken des Neoliberalismus weg gedämmert. Zumindest im Westen. Jetzt lebt sie wieder auf, wenn auch in einem ganz anderen historischen Kontext.
Wenn Sie meinen, im Westen sei sie eingeschlafen, wie ordnen Sie dann das ein, was im Osten passierte?
Im real existierenden Sozialismus hieß es lange, dass die Vergesellschaftung der Produktionsmittel umgesetzt sei. Im Zuge von Glasnost und Perestroika wurde dann angesichts der desaströsen wirtschaftlichen Lage Privateigentum eingeführt mit der Begründung, dass man damit die Werktätigen nun endlich aber wirklich zu Eigentümern der Produktionsmittel machen würde, womit sie motivierter wären, zu arbeiten. Die klassische Anreiztheorie des Privateigentums. Man hatte die Ideologie des Privateigentums, die von den westlichen Berater:innen an sie herangetragen wurde, kritiklos geschluckt. Es gab aber in der DDR durchaus Leute, auch hochrangige, die explizit sagten, das, was wir hier haben, ist keine Vergesellschaftung der Produktionsmittel, das ist Verstaatlichung und insofern alles andere als demokratisch. Fritz Behrens wäre hier zu nennen. Aber der bekam entsprechend Ärger. Es gab damals auch Leute, die keine Wiedervereinigung wollten, sondern für einen demokratischen Sozialismus kämpften, was immer das sein sollte, aber auch diese Leute haben sich über Vergesellschaftung Gedanken gemacht. Leider hat sich die Öffentlichkeit immer nur für jene interessiert, die sich in die bürgerlich-kapitalistische neue Normalität rasch zu integrieren wussten.
Lassen Sie uns nochmal zur historischen Vergesellschaftungsdebatte zurückkommen, Sie sagen, das sei nie umgesetzt worden, obgleich es doch die Kernforderung gewesen sei. Warum?
Ich bin ja keine Historikerin, aber mich hat das beim Eintauchen in diese Zeit überrascht, dass das die Kernforderung war, man denkt ja immer, dass die Kämpfe für mehr Lohn, für Betriebsräte, für Arbeitsschutzbestimmungen, für Arbeitszeitverkürzung, etc. pp. im Fokus standen. Aber nein, es war die Demokratisierung der Wirtschaft. Was mich auch überrascht hat, war, dass es dafür, dass es so eine zentrale Forderung war, überhaupt kein klares Konzept gab und vor allem, dass man das seinerzeit schon thematisierte und auch vehement kritisierte. Also, was Vergesellschaftung genau sein sollte, darüber existierten so viele verschiedene Vorstellungen, dass Zeitgenossen sagten, es gäbe überhaupt gar kein Konzept. Herauszuarbeiten, warum diese Kernforderung gescheitert ist, dazu bräuchte es eine ausführlichere Analyse, ich habe einige ausgewählte mögliche Gründe in meinem Buch genannt. Einer davon war eben genau jener: Da tut sich im Zuge der Revolution und nach einem massiven Zusammenbruch eines gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs, das war ja auch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, historisch ein Fenster zu einer maßgeblichen Veränderung auf, und man hat keine gemeinsam getragene Vorstellung davon, wie das zu füllen wäre. Dann schließt sich so ein Fenster halt auch wieder rasch. Daraus könnte man heute lernen.
Welche Kritiken an dem Vorgängerbuch berücksichtigen Sie?
Vor allem was den Wunsch nach Präzisierung der Argumentation betrifft, habe ich nachgelegt. Beispielsweise ist in meinem Enteignungsbuch für manche nicht deutlich genug rausgekommen, dass Privateigentum und Wachstumszwang zwei Seiten derselben Medaille sind und dass mit der historischen Herausbildung von Privateigentum sich auch das moderne Geldsystem mit herausgebildet hat. Man kann den Wachstumszwang nicht überwinden, ohne das erste aufzuheben und man muss sich auch über die Rolle des Geldes in seiner engen Verbindung mit Privateigentum mehr Gedanken machen. Bezogen auf den Wachstumszwang heißt das: Die Herrschenden haben im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus massenhaft Menschen von ihrem Land vertrieben, das ist die Vorgeschichte von Privateigentum, man hat das nun aber nicht getan, weil man dort in der Sonne rum liegen wollte, sondern weil das Land profitabler eingesetzt werden sollte. Bis heute gilt: Aus dem eingesetzten Kapital mehr zu machen, ist wesentliches Kennzeichen von Privateigentum.
Inwiefern ist Marx noch ein wichtiger Referenzpunkt für die Kritik des Eigentums? Welche andere Denker:innen sind wichtig?
Wenn man mein Buch liest, wird man nicht übersehen, dass ich von der marxschen Analyse des Privateigentums viel gelernt habe. Der Anspruch von Marx war es allerdings, die allgemeinen Bewegungsgesetze des Kapitals zu untersuchen. Er selbst hat betont, dass ihm die Untersuchung der Produktionsverhältnisse im England seiner Zeit nur zur Illustration dient. Die kapitalistische Produktionsweise kann sich empirisch in Zeit und Ort höchst unterschiedlich zeigen. Insofern bewegt sich die Analyse von Marx auf einem hohen Grad der Abstraktion. Allein diese Erkenntnis verbietet es zu glauben, mit Marx alleine käme man weiter, zumindest dann nicht, wenn man die konkreten Erscheinungsformen der kapitalistischen Produktionsweise verstehen möchte. Daher reicht jetzt der Platz hier gar nicht aus, um andere Autor:innen zu nennen.
Wie steht es mit dem Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft in Fragen von Eigentum?
Das ist eine große Frage. Wenn wir Privateigentum nicht auf das Recht reduzieren, andere von etwas auszuschließen, sondern die ökonomische Dimension mit in den Blick nehmen, dann wird schnell klar, dass wir es mit einer sehr viel umfassenderen Kategorie zu tun haben, die uns die Antwort auf eine wesentliche Frage geben kann: Wie setzen wir Menschen uns zueinander ins Verhältnis bezüglich der arbeitsteiligen Aneignung von Natur? Aneignung ist also die abstrakteste Beschreibung von Eigentum. Aber arbeitsteilige Aneignung meint dann auch, hier vergesellschaften sich Menschen über ihre Arbeit, um sich gemeinsam zu reproduzieren, das heißt, zwecks ihres Überlebens als Gemeinschaft. Oder als Gesellschaft? Genau hier stolpert man auch bei Marx, der beide Begriffe in ihren unterschiedlichen grammatischen Anwendungsfällen auf den ersten Blick nicht ganz konsistent einsetzt. Es gibt Tonnenweise Literatur zu dieser Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft, der Soziologe Ferdinand Tönnies hat diesen Unterschied ja erstmals systematisch herausgearbeitet. Ich habe lange damit gerungen, wie weit ich in diese Debatte reingehe und habe mich dann entschieden, dass ich sie nur insoweit behandle, als sie mir notwendig ist für das Verständnis von Vergesellschaftung als theoretisches Konzept.
Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Kampagne Deutsche Wohnen & Co Enteignen? Was gibt es zu tun, damit diese sich nicht erledigt? Welche anderen Akteure, Bewegungen sind relevant?
Die Kampagne hat bezogen auf ihr Anliegen meines Erachtens eine der wichtigsten sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte initiiert. Mit der Forderung nach Vergesellschaftung entzieht sie sich der Dichotomie von Privateigentum oder Staatseigentum, diesem immer gleichen ermüdenden Gegensatz von Markt oder Staat, über den hinaus es kaum eine progressive Bewegung schafft. Sie ringt – schwer genug – um einen Weg, der jenseits dieser beiden Kategorien liegt, ist sich aber der Widersprüche und Widerstände bewußt, die sich dabei auftun. Vergesellschaftung ist kein Zustand und kein bereits feststehendes Rechtskonzept. Es ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, der Offenheit braucht für ständige Korrekturen und sich selbst stets neu erfinden muss. Meines Erachtens sind alle Akteure und Bewegungen, die es ernst meinen in ihrem Nachdenken über eine herrschaftsfreie Welt, in der das schöne Leben für alle möglich wäre, relevant, um sich hier anzuschließen in Forschung und Praxis, grade um den Prozess nach vorne zu treiben. Der Historiker Ralf Hoffrogge hat mal geschrieben, die Kampagne habe für ihre Forderung einen juristischen Hebel gesucht und mit dem Artikel 15 unvollendete Geschichte gefunden. Mit den historischen Erfahrungen des Misslingens und der falschen Abzweigungen im Rücken hätten wir jetzt die Chance, sie zu vollenden.