Debatte: Die technologischen Möglichkeiten des Netzes lassen von einer neuen Planwirtschaft träumen
Erschienen im Der Freitag, Ausgabe 24/2021
„Anticipatory Shipping“ heißt die Technologie, die sich Amazon vor zehn Jahren patentieren ließ: Algorithmen rechnen anhand der Bedürfnisgeschichte der Kund*innen aus, was sie künftig bestellen werden. Auf dieser Basis können die dezentralen Lagerzentren vorauseilend beliefert werden. Während manche in dieser neuen Technologie eine „gespenstische Zukunftsvision“ (Rheinische Post) im Hinblick auf den „gläsernen Kunden“ erblicken, sehen andere darin ein gewaltiges Potenzial gesellschaftlicher Veränderung aufscheinen. Jack Ma, der Gründer und ehemalige Chef von Alibaba, der größten Handelsplattform der Welt, verkündete, dass man nun endlich die unsichtbare Hand des Marktes finden könne. Das erlaube erstmals, „die Planwirtschaft zu verwirklichen“. Auch riesige Handelskonzerne wie Walmart verleiten mit ihrer digital gesteuerten internen Koordinationsleistung zu radikalen Schlussfolgerungen. 30 Jahre nach dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West gibt es dank Big Data und künstlicher Intelligenz eine Planungsdebatte 2.0.
Worum geht es? Im Gegensatz zu Jack Ma, der eher von der optimierten Planung eines Marktes ausgeht, fragen die Autoren Leigh Phillips und Michal Rozworski in ihrem Buch The People’s Republic of Walmart: How the World’s Biggest Corporations Are Laying the Foundation for Socialism, ob man sich „die logistischen und planerischen Machtzentren – die Walmarts und Amazons dieser Welt – aneignen“ und sie für eine „egalitäre, ökologisch rationale Zivilisation umwidmen“ könnte – jenseits des Marktes.
Technologien dienen im digitalen Kapitalismus einem bestimmten Zweck
Nun dienen diese Technologien im digitalen Kapitalismus einem ganz bestimmten Zweck. Es geht in der Regel darum, die Kosten zu reduzieren mittels Rationalisierung. Eine schnellere Lieferung kann den Umschlag der verkauften Waren erhöhen, die Lagerhaltung verkürzen. Auch den Unwägbarkeiten des Marktes, der Tendenz zur Überproduktion, soll damit vorgebeugt werden: je genauer die Bedürfnisse antizipiert werden können, desto zielgerichteter kann die Herstellung darauf reagieren. Produziert wird nur noch nach tatsächlicher Nachfrage. Auch zur Kontrolle der Beschäftigten wird diese neue Technologie eingesetzt. Kapitalistische Konkurrenz findet in KI, Big Data und Vernetzung ihre Optimierung: schneller, höher, weiter, billiger.
Gesellschaftliche Form drückt der Technologie ihren Stempel auf und Technologie schreibt sich auf spezifische Weise in diese Gesellschaft ein. Dieses Verhältnis müsste in den Mittelpunkt dieser Planwirtschaftsdebatte 2.0 rücken. Mitunter jedoch scheint es, als würde sie hinter die Diskussionen der 1920er Jahre zurückfallen. In jener Zeit stritten Ökonomen über die Funktion von Preisen und Märkten. Eine tief ausdifferenzierte arbeitsteilige Gesellschaft sei zu komplex, als dass ein Master Mind planen könnte, was die Menschen brauchen, so argumentierten liberale Ökonomen seinerzeit. Der Markt sei intelligenter. Angebot und Nachfrage würden über die Informationen vermittelt, die der Preis gibt. So kreiste man seinerzeit um des Gretchens Frage: Welche Koordinierungsfunktion hat der Preis, meint auch: Welche Rolle spielt Geld in einer Marktwirtschaft? Der Preis, so das Gegenargument, sei mitnichten eine geniale, neutrale Informationsinstanz. Vielmehr spiegelt er die soziale Ungleichheit und blendet ökologische Kosten aus. Der Publizist Evgeny Morozov bringt es auf den Punkt: Der Preis liefert die relevante Information für denjenigen, der sein Handeln an der Möglichkeit des Profits ausrichtet.
Möchte man also einen „fully automated luxury communism“, käme man um die Frage nicht rum: Wer würde in einer Gesellschaft, in der es nicht mehr um die Maximierung von Profit ginge, entscheiden, was wie für wen produziert werden würde? Welche Rolle würden Markt und Preis dann noch zu spielen haben? Die Digitalisierung mag das Potenzial haben, die Ermittlung von Bedürfnissen und die Koordination von Produktion und Verteilung zu optimieren. Wie das am humansten geschehen kann, darauf können Maschinen keine Antworten geben. Da braucht es menschliche Intelligenz.