Corona: Die USA wollen den Patentschutz für Vakzine aufheben. Doch die Skepsis ist groß.
Der Artikel ist in einer gekürzten Fassung erschienen in der Wochenzeitung Der Freitag, in der Ausgabe 19/2021, Seite 3.
Als US-Präsident Joe Biden am Mittwoch letzter Woche verkündete, eine zeitweise Aussetzung des Patentschutzes für Corona-Impfstoffe zu unterstützen, stand die Weltöffentlichkeit Kopf und »die Märkte« zeigten unmissverständlich, was sie davon halten: die Aktienkurse der Impfstoffentwickler Curevac und BionTech brachen ein. Einen Tag später, so will es ein deutsches Nachrichtenmagazin wissen, klingelte in Mainz bei Uğur Şahin, Chef von BionTech, das Telefon. Am Apparat: Angela Merkel.
Dass die Bundeskanzlerin Bidens Vorstoß zur Chefsache macht, hat Gründe. Mit der Forderung nach Aufhebung des Patentschutzes wird das Allerheiligste des Kapitalismus angegriffen: Das Privateigentum, in diesem Falle das Geistige Eigentum. Kein Wunder, dass die Pharmalobby Sturm läuft. Auch die Bundesregierung ist dagegen. Die Argumente sind allerdings durchsichtig, globale Verteilungsgerechtigkeit steht dabei nicht an erster Stelle. Auch nicht bei den USA.
Anlass der von Biden verursachten öffentlichen Aufregung ist ein Verzichtsantrag der Regierungen Indiens und Südafrikas bei der Welthandelsorganisation (WTO). Der Schutz des geistigen Eigentums bei Covid19-bezogenen Medikamenten, Impfstoffen, Diagnostika und Schutzmaterialien solle temporär ausgesetzt werden. Etliche Länder und NGOs unterstützen das Anliegen. Die Hoffnung: Unternehmen in den Ländern des globalen Südens könnten die Schutzmittel gegen Corona selbst produzieren ohne Patentklagen zu befürchten. Stand Ende April 2021 waren zwar mehr als eine Milliarde Impfdosen verabreicht worden, aber 90 Prozent davon in zehn reichen Ländern. In fast 130 Ländern mit insgesamt 2,5 Milliarden Menschen waren es dagegen nur etwas mehr als 100 Millionen Dosen.
Bei den reichen Industrieländern stieß das Anliegen bisher trotz der globalen Notlage auf Granit. Bidens überraschende Kehrtwende löste entsprechend Jubel bei den Antragstellern aus, auch die EU-Kommission zeigte sich zunächst offen, allein die Bundesregierung stimmte ein in den Chor der Pharmaindustrie: Der Schutz geistiger Eigentumsrechte, so das Mantra, biete Anreiz für Forschung und Entwicklung von Impfstoffen. Sichere man den Herstellern nicht die Möglichkeit, aus ihren Patenten einen Gewinn zu erzielen, werden sie nicht mehr in Forschung und Entwicklung investieren und sich vom Markt zurückziehen. Angesichts künftiger Pandemien eine Katastrophe.
Außerdem, so gab der Bundesverband der deutschen Industrie Schützenhilfe, würde das Aussetzen der Patente die Impfstoffproduktion nicht beschleunigen. Man pflichtete damit der Pharmaindustrie bei, die nicht müde wurde zu betonen, dass es den ärmeren Ländern an allem mangle, was man für die Impfstoffproduktion benötige: Vorprodukte, Know-How, Infrastruktur. Ein sehr viel größeres Problem seien Exportrestriktionen für bestimmte Komponenten oder Impfstoffe. Während die EU etwa die Hälfte ihrer 400 Millionen produzierten Impfungen exportierte, hätten die USA ihre produzierten Impfstoffe alle selbst verbraucht. Der Vorstoß von Biden sei daher wohlfeil. Laut Bloomberg Vaccine Tracker ist in den USA inzwischen ein Drittel der Bevölkerung vollständig geimpft. In Indien, wo das Virus außer Kontrolle geraten ist, sind es nur 2,5 % der Bevölkerung. „Die Europäische Union ist die einzige kontinentale, demokratische Region dieser Welt, die in großem Umfang exportiert“, sagte von der Leyen mit Blick auf die USA.
Die Gegner einer Patentaussetzung verweisen auch auf die Initiative COVAX, eine Art globaler Umverteilungsmechanismus, bei dem reiche Länder die Unterversorgten mit Impfstoff ausstatten, sowie einen bei der WHO angesiedelten Pool, in den Patente und Produktionswissen freiwillig eingebracht werden könnten. Zu wenig, zu langsam klagen die Länder im globalen Süden bezogen auf COVAX und was den Pool angeht: Mehr Ebbe als Flut.
Die Argumente gegen die temporäre Aussetzung des Schutzes Geistigen Eigentums klingen auf den ersten Blick plausibel. Tatsächlich sind die Produktionsbedingungen der neuartigen mRNA-Impfstoffe nicht trivial. Die Anzahl der Komponenten, die Schwierigkeit ihrer Beschaffung, Komplexität der Verarbeitung, die hohen Qualitätsstandards, die Anforderungen an die Lagerhaltung, all das sind Bedingungen, die in der Tat ein spezifisches und weltweit noch nicht eingeübtes Erfahrungswissen benötigen. Die Forderung nach Aussetzung des Patenschutzes umfasst daher auch den Transfer des Know-Hows, Daten aus den klinischen Studien, die Aufhebung von Geschäftsgeheimnissen, etc.
Darüber hinaus gibt es jenseits der mRNA-Impfstoffe auch andere Impfstoff-Varianten, die leichter nachzubauen sind und mit denen Hersteller von Impfstoffen im globalen Süden durchaus Erfahrung haben. In Indien produziert der größte Vakzinhersteller der Welt, das Serum Institute of India, einen Corona-Impfstoff von AstraZeneca. Ein Netzwerk von 41 Impfstoffherstellern aus etwas mehr als einem Dutzend Entwicklungsländern hat sich jüngst mit den Herausforderungen der Produktion von Corona-Impfstoffen befasst. Man ist sich bewusst, dass der Aufbau eigenständiger Produktion dauern würde. Was man dennoch gewonnen hätte: Weitgehende Autonomie und Unabhängigkeit von westlichen Pharmaunternehmen, deren Preisvorgaben und Lizenzbedingungen.
Aber wenn man sowieso davon ausgeht, dass es den Entwicklungsländern an Kompetenz und Kapazitäten mangelt, was spräche dann dagegen, den Patentschutz aufzuheben? Ist es wirklich so, wie es mitunter aus der Pharmabranche heißt, dass ungeübte Hersteller panschen könnten und damit mehr Schaden für die Gesundheit anrichten als Nutzen? Und könnte man dem mit einer gezielten Produktionspartnerschaft nicht abhelfen? Das in Seattle/USA ansässige Biotech-Unternehmen HDT ging beispielsweise eine Produktionskooperation mit dem indischen Biotech-Unternehmen Gennova Biopharma in Pune ein. Indien könnte damit laut Business Today India seinen ersten einheimischen mRNA-basierten COVID-19-Impfstoff erhalten. Dieser soll übrigens bei einer Temperatur von 2 – 8 Grad Celsius gelagert werden können, was ihn gegenüber mRNA-Vakzinen von BionTech oder Moderna attraktiver macht. Wie unklar derzeit die Antworten auf all diese Fragen auch sein mögen, ein kostenfreier Transfer des Wissens wäre möglicherweise nicht die hinreichende Bedingung für eine Ausweitung von Produktionskapazitäten, eine notwendige aber schon. Geheimhaltung ist Gift für kooperative Forschung und Entwicklung.
So bleibt am Ende nur das Investitionsargument übrig: Niemand würde mehr forschen und produzieren, wäre nicht die Möglichkeit gegeben, aus den Ergebnissen Gewinn zu ziehen. Nun mag das für eine Welt gelten, die auf der Ordnung des Privateigentums beruht. Sie folgt einem bestimmten Anreizsystem, keinem allgemein Gültigen. Jedes Kind weiß, dass Antrieb, Motivation und Entdeckergeist andere Anreize haben kann, als die Sicherung privaten Eigentums, die auf dem Prinzip extrinsischer Motivation beruht: Tätig werden nur gegen Belohnung von außen, in diesem Falle in Form von Gewinnen. Daneben gibt es die intrinsische Motivation: Tätig werden aus eigenem Antrieb, weil es Spaß macht, weil man anderen Gutes tut, weil man kontemplativ darin versinken kann, etwas auszutüfteln.
Das herrschende Anreizsystem Privateigentum gilt allerdings als alternativlos, das mag zum einen daran liegen, dass es bereits seit 500 Jahren herrschende Praxis ist und eher als Naturzustand denn als gesellschaftliches Verhältnis wahrgenommen wird, zum anderen, erlaubt es ihren Nutznießer*innen, einen unverhältnismäßig großen Kuchen des gesellschaftlich gemeinsam produzierten Reichtums anzueignen. So sind die Zwillingsbrüder Andreas und Thomas Strüngmann größter Einzelaktionär von BionTech, sie teilen sich im Forbes-Ranking der reichsten Unternehmer der Gesundheitsbranche Platz 5, auch Uğur Şahin steht mittlerweile auf dem Milliardärsindex von Bloomberg. Man darf sich nichts vormachen, auch die Eigentümer der BioTech-Unternehmen im globalen Süden produzieren Vakzine nicht aus Altruismus, sondern ganz der herrschenden Anreizstruktur des Privateigentums folgend werden Impfstoffe produziert um das investierte Kapital zu vermehren, wovon ein Teil privat angeeignet wird: Cyrus Poonawalla, Chef des oben erwähnten indischen Vakzinproduzenten ist laut Business Insider viertreichster Inder und der 100. reichste Mensch der Welt. Des einen Leid, des anderen Freud: Die Corona-Krise hat die Superreichen der Gesundheitsbranche noch reicher gemacht.
Konkurrenz und Expansionsdrang ist charakteristisches Kennzeichen dieser Anreizstruktur. Sie führte dazu, dass mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zunehmend auch geistig-kreative Schöpfung zur Ware wurde, wozu sich unterschiedlichste Rechtsformen Geistigen Eigentums herausbildeten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Geistiges Eigentum schließlich Gegenstand internationaler Verträge im Rahmen der Welthandelsorganisation. Seither gewinnt es als Handelsgut immer mehr an Gewicht für Wirtschaftswachstum in Konkurrenz: Angestrebt wird technologische Führerschaft auf dem Weltmarkt.
Auch in der Biotechnologiebranche ist der Schutz geistigen Eigentums zentral. Der Bundesregierung gilt dieses Marktsegment als Hoffnungsträger für Wachstum. Staatliche Förderprogramme sollen gründungswilligen Forscher*innen helfen, marktfähig zu werden. Auch BionTech kam in den Genuß dieser Fördermittel und schaffte so den Sprung von der Universität an die Börse. Patente dienen der Sicherstellung der Marktposition. Die Wirtschaftswoche berichtet, dass Uğur Şahin bei 500 Patenten beteiligt ist. Natürlich sind Impfhersteller auch interessiert an der Ausweitung der Produktionskapazitäten, auf eigene Rechnung. In einem Interview verweist Şahi auf mittlerweile 13 Kooperationspartnerschaften, die man eingegangen sei. Worum es also eigentlich geht, das hat Bundeskanzlerin Angela Merkel jüngst recht deutlich ausgesprochen: dass Fachwissen über die neuartigen mRNA-Impfstoffe könne bei einer Offenlegung der Patente nach China abfließen, so die Kanzlerin.
Nun gilt auch in den USA die Biotechnologie als Wachstumstreiber und die Konkurrenz zu China ist auch hier groß. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wieso Joe Biden dem globalen Süden entgegenkommen möchte. Eine Mehrheit an Demokraten forderten den Präsidenten Ende April auf, »Amerikas Führungsrolle im Bereich der öffentlichen Gesundheit auf der Weltbühne wiederherzustellen«. Die Aktion ist daher nicht ganz selbstlos. Achal Prabhala von der Shuttleworth Stiftung in Südafrika erklärte einem Medienbericht zu Folge, dass es bis zum Jahr 2024 dauern würde, um mit COVAX eine ähnlich hohe Impfquote zu erreichen, wie sie in westlichen Ländern angestrebt werde. China und Russland sind schneller, sie beliefern Entwicklungsländer mit Impfstoffen, bauen Anlagen für die Produktion und erhöhen so ihren Einfluss. Es geht den USA um Soft Power. Es sind geopolitische Abwägungen, diese scheinen gegenüber den Standortinteressen stärker gewichtet. Dazu kommt, dass US-Konzerne wie Pfizer laut Marktbeobachtern bereits in der ersten Verkaufsrunde schon hohe Profite eingefahren haben und darüber hinaus die Gewinnmargen ohnehin fallen werden, da nun immer mehr Vakzinhersteller auf den Markt drängen.
Aber am Ende war die ganze öffentliche Aufregung um den Antrag auf Patentschutzaussetzung ohnehin nur heiße Luft und Bidens Vorstoß Symbolpolitik. Ob es jeweils zu einer Aussetzung des Patentschutzes kommt ist völlig unnklar. Eine Konkretisierung der betroffenen Schutzgegenstände steht noch aus, der Aushandlungsprozess der WTO kann sich über Monate ziehen. Derweil konnte Biden sich als Präsident mit einem Herz für die ärmsten Länder der Welt profilieren, während Uğur Şahin unter dem Schutzschirm von Angela Merkel Forschung und Entwicklung weiter vorantreiben kann am Firmensitz in Mainz, mit der Postadresse: »An der Goldgrube 12«.