Interview: Katharina Pistor weiß, wie Anwälte die Reichen reicher machen. Sie unterrichtet Jura-Studierende
Von Sabine Nuss, erschienen im Freitag, Ausgabe 12/2021, vom 25.03.2021
Die Juristin Katharina Pistor trifft mit ihrem nun auch auf Deutsch vorliegenden Buch Der Code des Kapitals einen Nerv. Kapital, so ihre These, entstehe erst durch die Codierung von Recht. Letzteres sichere Vermögen nicht nur ab, sondern verteile es auch noch höchst ungleich. In der Sphäre des Rechts geht es also nicht nur darum, was erlaubt und was verboten ist, sondern auch – und das schon seit Jahrhunderten – um die Erschaffung von Kapital.
der Freitag: Frau Pistor, die meisten Leute denken, Kapital ist eine Summe Geld. Ökonomen sagen, Kapital ist ein Produktionsfaktor: Fabrik, Maschine, Boden. Sie sagen, beides ist falsch. Warum?
Katharina Pistor: Das ist ein verkürztes Verständnis von Kapital. An sich ist Land ein Stück Dreck. Es hat im Grunde keine ökonomische Funktion im kapitalistischen Sinne, außer wenn ich ein soziales Konstrukt drüber mache, das dazu dient, Land monetarisieren zu können. Darum ging es im Wesentlichen beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus bei der exklusiven Aneignung von Land.
Und die wurde mittels des Rechts durchgesetzt?
Genau. Land wurde immer schon für wirtschaftliche Produktion eingesetzt, von Sammlern, Jägern oder Bauern, aber es gab relativ komplexe Regelungen darüber, wer wann temporär Zugang dazu hatte. Dann gab es diesen Umschwung vom Ausgang des Mittelalters an: Plötzlich hatte nur noch einer die exklusive Verfügungsmacht, konnte darüber bestimmen und Rechte daran vergeben.
Das ging ja mit einer erheblichen Gewalt und der Zerstörung von althergebrachten kollektiven Nutzungsrechten einher. Wie wurde das legitimiert?
Man sagte, diese exklusiven Eigentumsrechte wären produktiver und das käme allen zu Gute. Da muss man aber auseinanderhalten, was ist Ideologie und was sind die zu Grunde liegenden Interessen. Der Sozialphilosoph John Locke, der das maßgeblich vertrat, schrieb ja auch zu den Landverhältnissen in Nordamerika, als er seine Theorie im 17. Jahrhundert entwickelte und die ist auch dazu benutzt werden, den Indigenen das Recht auf Eigentum abzusprechen.
Sie schreiben, Kapital werde „codiert“, nicht „kodifiziert“, was so viel hieße wie „in Gesetzesform bringen“, während „codieren“ eher vom Programmieren her bekannt ist.
Die Kodifikation ist eine gesetzgeberische Maßnahme, bei der aus verschiedenen Quellen heraus ein systematisches Rechtswerk hergestellt wird. Aber worum es mir geht, ist der Prozess der Codierung, eben mit „C“, den vor allem die Anwälte vornehmen, indem sie bestehendes Recht nehmen, aus den Lücken des Vorhandenen und durch Analogien dazu dann Neues kombinieren, gleichsam wie Module, und dadurch dann letztendlich neue Rechte schaffen.
Und das ist legal?
Ja. Wenn ich einen Anspruch so darstellen kann, dass er zum Beispiel ins Kaufrecht passt, dann habe ich schon eine Menge gewonnen. Wenn ich zeigen kann, dass bestimmte Prinzipien schon in der Vergangenheit für Rechtens erklärt worden sind, dann muss ich mit der neuen Formation von Rechten nur nahe genug dran sein. Man knüpft also an Bestehendem an und entwickelt es weiter.
Eine Art Forking, wie es in der Softwareentwicklung genannt wird, um im Bild zu bleiben, wenn ein Projekt aufgespalten wird in zwei oder mehrere Folgeprojekte.
Genau.
Sie beschreiben solche Codierungen unter anderem am Beispiel sogenannter innovativer Finanzprodukte. Sie zeigen damit ja im Grunde nochmal eine ganz andere Facette der Finanzkrise, oder?
Die Codierung solcher Finanzprodukten war gängige Praxis im Vorfeld der Finanzkrise 2008. Da wurden en Gros Häuser auf Kredit verkauft und die Hypotheken dann in einem Paket geschnürt, das wiederum gehandelt wurde. Am Ende wußte keiner so genau, was da jetzt drin ist, aber das ganze Konstrukt bauten Juristen, die die jeweiligen Ansprüche auf Zahlung codierten.
Wie sah die Codierung dabei aus?
Man hat diese Ansprüche diversifiziert, risikoarme und risikoreichere in ein Paket gepackt, auch Hierarchien zwischen den Gläubigern wurden codiert: Wer wird zu erst bedient, wer geht leer aus. All das machen die Anwälte…
Die „Herren des Codes“.
Genau. Dann wurden darauf noch Versicherungen abgeschlossen, die ebenfalls gehandelt werden konnten. Die Banken und andere Finanzunternehmen wie auch die Coder verdienen daran, für jeden Schritt kassieren sie Gebühren.
Wieso ging das nicht auf? Können die Coder keine Sicherheit programmieren und damit Verluste minimieren?
Das ganze Konstrukt basierte auf der Annahme, dass nicht alle Hauspreise gleichzeitig runtergehen. Aber genau das ist passiert, dann brach alles in sich zusammen. Da haben auch die Versicherungen nichts geholfen. Kennen Sie den Film The Big Short?
Ja, großartiger Film.
Genau wie in diesem Film ist es auch gewesen, ich zeige den meinen Studierenden immer.
Die werden dann später auch mal Coder.
Ja, natürlich. Die Columbia Law School, wo ich lehre, ist eine der Top-vier-Law-Schools in den USA, und viele unserer Studierenden gehen zu einer der großen Wall-Street-Kanzleien. Seit den 1990er Jahren ist der Finanzsektor größer geworden und entsprechend auch die Firmen.
Was geben Sie denen mit?
Ich versuche ihnen klarzumachen, was sie da tun. Durch meine Gespräche mit den Codern aus der Praxis weiß ich, dass diese Praktiker keinen Sinn für das System haben, sie sind hoch spezialisierte Ingenieure für bestimmte Finanzprodukte. Ich glaube ihnen das auch bis zu einem gewissen Punkt. Die waren überzeugt, mit den intelligentesten Leuten zusammengearbeitet zu haben, und konnten nicht verstehen, warum das System gecrasht ist.
Sie wussten nicht, was sie tun?
Irgendwann schon. Eine Juristin hat mir mal gesagt, spätestens, als sie 40 von diesen Finanzpaketen pro Monat geschnürt haben, war ihr klar, dass das so nicht weitergehen kann.
Aber es wurden keine Konsequenzen gezogen.
Nein. Sie machen natürlich weiter, sie bekommen ja Gebühren dafür.
Sie sagen, dass diese Codierungspraxis eine Ursache für die zunehmende Ungleichverteilung der Vermögen sei.
Das stimmt, das hat maßgeblich zu einer Umverteilung zugunsten der Vermögenden geführt. Wir diskutieren heute, ob wir nicht mittlerweile ein Maß an Ungleichheit haben, das zuletzt vor der Französischen Revolution erreicht wurde. In den letzten 30 Jahren hat diese Codierung Formen angenommen, die mit Demokratie nicht mehr vereinbar sind.
Wurde der Code des Kapitals seinerzeit gezielt umprogrammiert oder war das ein Bug?
Das hat was mit der Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen für die Globalisierung zu tun. Man hat die Kapitalschranken weggenommen und zugleich im internationalen Privatrecht den Privaten mehr Autonomie eingeräumt. Wo ich meine Aktiengesellschaft gründe, ist jetzt egal, ich habe freie Rechtswahl, das ist immer weiter ausgedehnt worden. Es gibt jetzt wirklich so eine Art Menü von verschiedenen Rechtssystemen, da such ich mir als Anleger oder Investor das raus, was ich am besten finde.
Eine der gefragtesten Codierungsstrategien aus Sicht des Kapitals ist Ihnen zufolge die Abschirmung von Vermögenswerten vor der Steuer. Anwälte kassieren außergewöhnlich hohe Honorare für diesen Code. Nun sind es ja aber die Staaten selbst, die das rechtlich überhaupt erst ermöglichen. Sie schreiben: Staaten stellen den Stoff bereit, aus dem das Kapital codiert wird. Das staatlich gesetzte Recht wendet sich nun aber gegen den Staat selbst. Wieso wird das zugelassen?
Das ist eine gute Frage. Der Wettbewerb zwischen den Staaten wird dadurch ermöglicht, dass rechtlich codierte Ansprüche von einer Rechtsordnung in eine andere verlagert werden können, ohne ihren Rechtsschutz einzubüßen. Das war nicht immer so. Vor 15 Jahren noch musste ein Unternehmen, das in Deutschland operierte, nach deutschem Recht gegründet worden sein. Dann hat der EuGH erklärt, dass dies gegen das Prinzip der freien Beweglichkeit von (juristischen) Personen in der EU verstoße. Auch Steueroasen entstanden so. Man hat das rechtlich schlicht ermöglicht.
Codiert.
Ja. Und selbst wenn klar ist, dass es sich um Briefkastenfirmen handelt, akzeptieren viele Staaten die juristische Trennung verschiedener Korporationen. Staaten wollen Kapital anziehen, sie haben Angst, dass es nicht zu ihnen kommt, wenn die rechtlichen Voraussetzungen zu schwierig sind und zugleich wollen sie ja auch, dass ihr nationales Kapital überall hin gehen darf.
Das heißt, die Staaten haben sich erpressbar gemacht, weil sie jetzt vom Kapital gegeneinander ausgespielt werden können?
Ja, das kann man so sagen. Das gilt aber auch für Finanzplätze. Wenn ich was am Finanzplatz in London nicht machen kann, gehe ich halt nach New York.
Aber es gibt ja immer wieder Vorschläge für Reformen, bezogen auf Steuern zum Beispiel. Thomas Piketty und seine Mitstreiter, die Ökonomen Emmanuel Saez und Gabriel Zucman schlagen für Unternehmen einen weltweiten Mindeststeuersatz von 25 Prozent vor, mit Ausgleichssteuer: Wenn Apple zum Beispiel in Jersey nur 2 Prozent Steuern bezahlt, dann dürfte die USA bei Apple die fehlenden 23 Prozent einziehen.
Ja, darüber habe ich mit ihnen schon öfter diskutiert. Sie gehen praktisch davon aus, dass man dem Kapital die Gans geben kann, die die goldenen Eier legt und ihm dann ab und zu ein Ei weg nimmt. Wenn Du denen aber die Gans gegeben hast, muss um jedes Ei gekämpft werden. Das spricht nicht gegen Besteuerung, will aber sagen, dass sie zu spät greift.
Auch Wissen wird codiert. Geistiges Eigentum ist angesichts der Corona-Krise und des Streits um die Freigabe von Impfpatenten gerade sehr virulent.
Richtig. Da darf man nicht vergessen: Es ist häufig der Staat, der die Grundlagenforschung finanziert, und bei den Impfstoffen hat er viel reingegeben.
Die Privaten eignen sich dann die Gewinne an.
Bei der Impfstoffentwicklung hätte man von vorneherein sagen können, dass bei diesem Milliardenmarkt die Kommerzialisierungsmöglichkeit eingeschränkt wird. Man kann das bei der Mittelvergabe bereits machen, bestimmte Kriterien daran binden, das muss man nicht Ex Post machen, indem man dann das Eigentum wegnimmt, sondern vorher.
Gibt es im Nachhinein Spielräume, das öffentlich geförderte und geschaffene Wissen allen zur Verfügung zu stellen?
Es gibt in Deutschland den Artikel 14: Eigentum wird gewährleistet, aber Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. Und Eigentum verpflichtet, es soll auch dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Darauf könnte man eine Patentfreigabe stützen. Zur Not könnte man Notrecht bemühen, wie es seinerzeit die USA bei Penicillin gemacht haben.
Das waren Zwangslizenzierungen.
Ja, da hat die US-Regierung zu Pfizer gesagt: Ihr kriegt kein Patent, ihr liefert, damit wir unsere Soldaten behandeln können.
Es gab also trotzdem Penicillin, es heißt ja immer, wenn es keine Patente gibt, fehlt es an Innovation.
Das stimmt natürlich nicht. Der Mensch ist innovativ, immer. Mein Mann ist Genetiker, der arbeitet hier für die National Institutes of Health, das ist eine Regierungseinrichtung, die arbeiten hart und kriegen wesentlich weniger Gehalt als in der Pharmaindustrie. Trotzdem versuchen sie, neue Erkenntnisse zu gewinnen und Patienten zu heilen. Aber wenn daraus kein Gewinn gemacht werden kann, vor allem bei seltenen Erkrankungen, dann zieht sich das Pharmaunternehmen zurück …
… weil es sich nicht rentiert…
… klar. Aus seltenen Erkrankungen kann man nichts machen, es sei denn es ist ein Baustein einer Großerkrankung. Der Witz der Patente ist wieder die Monetarisierung, die Frage ist immer: Kann ich aus dem Ding Geld machen?
Codierungsstrategien spielen auch im digitalen Raum eine Rolle. Das führt dazu, dass die Verbraucher in geschlossene proprietäre Systeme eingesperrt werden. Beispielsweise können E-Books, einmal bei Amazon gekauft, nur auf dem Amazon-Reader Kindle gelesen werden. Das wäre ungefähr so, als würde ein Fernseher, wenn man umzieht, in der neuen Wohnung nicht mehr funktionieren.
Ja, bezogen auf das Buch, also die Sache, auf die man einen Eigentumsanspruch hat, wird aus dem Sachenrecht der analogen Welt in der digitalen Welt immer mehr ein Vertragsrecht. Es gibt beim digitalen Buch, das man analog überallhin hätte mitnehmen können, weitergeben, verleihen, ein eingeschränkteres Nutzungsrecht. Codieren erlaubt hier die Schaffung von Vermögenswerten, die vorher nicht möglich gewesen wären.
Diese Codierung ist aber für die Verbraucher und damit für die Gesellschaft extrem dysfunktional, ich müsste mir das Buch nochmal kaufen, damit ich es auf meinem neuen eReader lesen kann, oder illegal cracken, aber das ist sehr zeitaufwendig, wenn man sich nicht auskennt.
In der digitalen Welt kann ich als Plattformbetreiber jedem sagen: Du musst Dich auf meine vertraglichen Vereinbarungen einlassen, sonst darfst Du nicht mitspielen. Die können so selbst mit Millionen von Leuten gleichzeitig Verträge schließen, weil sie einen Standardvertrag haben und jeder klickt „agree“, weil es so schön einfach ist. Für das Kapital ist das also höchst funktional.
Der Code des Kapital hat diesem also zu einer starken Dominanz verholfen, so lernt man aus Ihrem Buch, paradoxerweise stoßen auch althergebrachte Rechtsinstitutionen an ihre Grenzen, bzw. steht der private Code sogar mit der Exekutive gegen die Legislative. So erwähnen Sie ein Beispiel aus Belize, wo noch 2007 die Regierung den Maya das Recht verwehrt haben, gegen Konzessionen für Bergwerkunternehmen vorzugehen, obgleich die Maya vor Gericht gewonnen hatten.
Das Interesse des Staates und des Kapitals sind eben sehr eng verknüpft. Man kann dem Staat ja nicht den Gerichtsvollzieher schicken. Früher hätten vielleicht Nachbarstaaten das Militär reingeschickt, aber natürlich nicht für die Maya.
Man hat an dem Beispiel schön gesehen, wie auch heute noch traditionelle, kollektive Nutzungsrechte, auf das moderne, private Eigentumsrecht prallen, weil sie völlig inkompatibel sind.
Das Beispiel habe ich eigentlich angeführt, um zu zeigen, dass erstens ganz andere Modalitäten von Eigentum als Eigentum rechtlich anerkannt werden könnten, man kann ein ein kollektives Nutzungsrecht als Eigentumsrecht verfassungsrechtlich auffassen, ihm Schutz zusprechen …
Commons codieren?
… ja, das könnte man. Aber der zweite Punkt ist, dass der Staat meistens nur solchen Ansprüchen Schutz zugesprochen hat, die ihm auch genutzt haben. Und da kommt das wieder zusammen: Der Staat und das Kapital. Das ist eine Interessensgemeinschaft. Das sagt auch Max Weber, da muss man kein Marxist sein.
Sie grenzen sich ab von „Marxisten“, da diese zu eindimensional auf Ausbeutung fokussierten und die zentrale Rolle des Rechts unterschätzten. Sind also gar nicht die Kapitalisten das Problem, sondern die „Herren des Codes“?
Jein. Die Gemengelage zwischen Kapital und Recht ist zu dicht, als dass man das ganz auseinanderknüpfen könnte.
Aber bei Ihnen klingt es, als wäre die rechtliche Dimension das Wesentliche. Wie steht das im Verhältnis zueinander?
Das, wo ich divergiere, ist, dass das Recht lediglich der Überbau sein soll. Es ist die Grundlage für Eigentum, es gibt kein Eigentum ohne Recht. Man kann mittels Codierung sogar Kapital schaffen. All das rein an den Produktionsverhältnissen festzumachen, das ist ein wenig altertümlich.
Aber steht nicht ganz unten am Ende des Bauklötzchenturms nicht doch Arbeit, die erfolgreich sein muss, im Sinne des Kapitals, damit Kapital Gewinne realisieren kann? Man sieht das ja auch daran, dass, wenn ein Unternehmen pleite geht oder Beschäftigte aus ihrem Lohn den Hauskredit nicht mehr finanzieren können, das ganze darauf aufgebaute, kaskadenhafte Wettsystem zusammenbricht wie ein Kartenhaus.
Das stimmt grundsätzlich schon. Aber wenn der Staat bzw. die Zentralbanken eingreifen, werden die Kosten dieses Systems sozialisiert. Auf dieses Weise wird jedenfalls auch Mehrwert abgeschöpft.
Nach der Lektüre Ihres Buchs könnte man andernfalls auf die Idee kommen, dass es reicht, einen guten Rechtsanwalt zu haben, um reich zu werden. Würden Sie das so unterschreiben?
Also, arm darf man natürlich nicht sein. Aber man könnte auch armen Leuten durch entsprechende Codierung mehr Sicherheit vor Verschuldung geben, wenn sie ein kleines Vermögen aufbauen wollen.
Sie würden also sagen, dass wir die Ressource Recht unterschätzen für die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und die Zurückdrängung privater Vermögensinteressen?
Ja, auf jeden Fall. Das hat übrigens eine lange Geschichte. Historisch hat sich das Privatrecht vom öffentlichen getrennt in der frühen Neuzeit, und das geht Hand in Hand mit der Entwicklung des modernen Staates und der Entwicklung des Kapitalismus. Was wir nie gemacht haben, nach der französischen Revolution, ist, die Gretchenfrage nochmal zu stellen: Wie ist das denn eigentlich mit dem Privatrecht?
Ist es dafür jetzt zu spät?
Nein. Das ist ein ständig umkämpftes Feld. Schauen Sie sich den Spruch des Bundesverfassungsgerichts zur Nassauskiesungsentscheidung an.
Ein berühmtes Urteil.
Genau. Da wurde die Erlaubnis entzogen, Nassauskiesung zu betreiben, weil es ein neues Wasserhaushaltsgesetz gab. Das wurde als enteignungsgleicher Eingriff beklagt, weil man dachte, Privatrecht, das ist alles deins: nach oben und nach unten, auch das Wasser. Und das BverfG hat in diesem Fall dann gesagt, nein, das ist keine Enteignung. Es verwies auf Artikel 14: Eigentum ja, aber Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. Da gab es nicht mal Entschädigung.
Um in Ihrem Bild zu bleiben: Was Sie ja im Grunde mit Ihrem Buch machen, ist den Quellcode des Kapitals offenlegen. Bei Freier Software ist das die Voraussetzung für die Demokratisierung der Produktionsweise. Was folgen daraus für politische Konsequenzen?
Die Rechtsinstitutionen, die ich beschreibe, da weiß man ja im Prinzip, wie sie funktionieren. Worüber wir nichts wissen, sind die privatrechtlichen Gestaltungen. Die Verträge sind nicht zugänglich. Was ich also nur offengelegt habe, sind die Mechanismen. Aber auch daraus lassen sich Schlüsse ziehen, zum Beispiel wo die Schwachstellen im System sind, die das Kapital für sich genutzt hat. Und wenn man den politischen Willen hätte, könnte man einige Lücken schließen. Ich bekomme sicher einmal im Monat eine Mail von einem Anwalt, meistens Leute im Ruhestand, dir mir zustimmen, die mir weitere Beispiele nennen, wie das in Deutschland läuft. Manche Lücken könnte man natürlich gesetzlich schließen. Man kann sich aber auch überlegen, wie man andere Dinge codiert.
Zum Beispiel?
Ich arbeite mit Trebor Scholz zusammen. Wir überlegen, wie man diese digitalen Plattformen als Kooperative aufziehen könnte, da ist die Frage: Was sind die rechtliche Grundlagen? Eine rechtliche Internationalisierung ist hier sehr schwer, weil die Grundlagen so veraltet sind. Da waren die Coder nie dran. Ich sage Trebor: Wenn ihr euch in Colorado gründet, aber in New York tätig seid, müsst ihr trotzdem bestimmte Sachen aus dem New Yorker Recht machen. Sowas gibt’s eben im Aktienrecht immer weniger. Es ist ja eine Kostenfrage, wieviele Rechtssysteme man gleichzeitig bedienen kann. Aber man kann diese Flexibilität, die für das Kapital geschaffen worden ist, ja auch für Commons nutzen. Da könnte der Staat auch kreativer werden, vielleicht könnte eine Kooperative mal eine Steuerminderung bekommen, statt immer nur das Kapital zu bedienen, da ließe sich einiges machen.
Aber fände man Coder, die da Interesse hätten? Sie verdienen ja am Kapital.
Das ist ein Problem, ja. Ich bin gewissermaßen Teil des Systems, denn unsere Studierenden zahlen ja riesig hohe Studiengebühren, denen bleibt oft nichts anderes übrig, als erst mal ein paar Jahre gut zu verdienen, damit sie ihre Schulden zurückzahlen können. Wir reinforcieren dieses System durch solche Mechanismen. Es gibt aber auch einige Studierenden, die gehen in Public Interest und denen werden auch die Gebühren erlassen, wenn sie mindestens fünf Jahre weniger als einen bestimmten Betrag verdienen. Sie nehmen praktisch die Gehaltseinbußen in Kauf, um einen Gebührenerlass bekommen. Das könnte man durchaus ausbauen.
Zur Person
Katharina Pistor, 57, wurde in Freiburg geboren. Sie ist Professorin für Rechtswissenschaften und lehrt an der Law School der Columbia University in New York. Sie wurde unter anderem mit dem Max-Planck-Forschungspreis ausgezeichnet. 2019 publizierte sie das Buch Der Code des Kapitals. Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft, das die Financial Times zu einem der wichtigsten Bücher des Jahres kürte. Jüngst erschien die deutsche Übersetzung bei Suhrkamp