Wenn Sie das hier lesen, wird einiges vorbei sein, was im Mai die Schlagzeilen bestimmte: die Europawahl, die Aufregung um Kevin Kühnert, Österreich und das Rezo-Video. Das ist das Leid von Kolumnistinnen einer Monatszeitung. Wir müssen überlegen: Wird die Debatte, die grade in den Schlagzeilen wütet, in 6 Wochen noch leben? Werden sich die Leute an der Käsetheke noch darüber unterhalten, wird es weitere Talkshows bei Anne Will geben? Twittert Ulf Poschardt noch über das Thema, wird die Mutti noch anrufen und fragen, was davon zu halten ist?
Meist lautet die Antwort: Nein, in 6 Wochen ist jeder frisch gefallene Schnee von gestern. Schnelllebige Zeiten. Jetzt, da sie diese Zeitung in der Hand haben, wird sicher das nächste Hausschwein durchs Dorf rennen. Und alle hinterher. Aber so weit ist es noch nicht, jedenfalls nicht, während das hier in die Tastatur gehämmert wird: Vielleicht gewinnen die Sozialdemokraten unerwartet die Europawahl, rufen daraufhin sogleich den demokratischen Sozialismus aus, vergesellschaften BMW und Deutsche Wohnen und machen Kevin Kühnert zum Chef der zentralen Planungskommission? Kommt vielleicht doch, was FDP-Vize Theurer fürchtet: eine »Staatswirtschaft«?
Unwahrscheinlich. Doch Vorsicht. Die Geschichte ist ein Schlawiner. Wer hätte Mitte September 1989 gedacht, dass 6 Wochen später die Mauer und mit ihr eine »Staatswirtschaft« fallen würde? Ein paar Jahre später hat Francis Fukuyama die These formuliert, Demokratie und Marktwirtschaft hätten jetzt endgültig gewonnen, das »Ende der Geschichte« sei erreicht. Das war als Tusch gemeint, den er später selbst als zu optimistisch korrigieren musste.
Und richtig, weit gefehlt: Heute ist er überall, der Staat. Trump verhängt Schutzzölle gegen den Freihandel, Chinas Staatswirtschaft steigt zur Weltmacht auf, Herr Altmaier von der CDU entdeckt die Industriepolitik, in Berlin fürchten die Immobilien-Investoren staatliche Enteignung und die Öffentlichkeit spricht über den Sozialismus. Sogar von den größten Verfechtern des freien Marktes hört man Kritik an zu wenig Staat. Dieser nämlich, so die Klage der Immobilienwirtschaft, habe in der Vergangenheit zu wenig gebaut, weshalb jetzt die Preise so gestiegen seien.
Angebot und Nachfrage, so hieß es bisher immer, regelt der Markt. Und zwar besser als der Staat. Schauen wir uns die Klimapolitik an. Da stehen sich Kohlendioxid-Abgabe und Emissionshandel als konkurrierende Ideen gegenüber. Bei der einen soll der Staat das Klima retten, bei der anderen der Markt. Aber Achtung.
Bei der Kohlendioxid-Abgabe müssen die Verursacher für ihren CO2-Ausstoß mit einer Steuer bezahlen. Böse, weil Staat, sagt die FDP – aber wir verraten den Freidemokraten etwas: Beim Emissionshandel ist nicht weniger Staat am Werke, denn er legt die erlaubten Schmutzmengen fest, er verknappt sozusagen die Erlaubnis, Dreck in die Luft pusten zu dürfen. Klimazerstörung ist dann teuer zu bezahlen und wird handelbar.
Der Markt ist also immer mehr Resultat staatlicher Spielanordnung. Sie sagen nun vielleicht: »Ach was, Luftverschmutzung kann ja nicht vom Straßenhändler nebenan verkauft werden wie belegte Brötchen. Das kann man nicht mit einer Ware auf einem freien Markt vergleichen.« Aber nein, Kohlendioxid ist keine Ausnahme.Ich verrate Ihnen etwas: Damit ein Käsebrötchen auf dem Markt gehandelt werden kann, müssen die Leute daran gehindert werden, dass sie es umsonst bekommen. Käsebrötchen dürfen nicht unkontrolliert in Massen auf der Straße frei verfügbar herumliegen, sonst klappt das nicht mit dem Markt.
Also wird ein Preisschild raufgepappt, und wenn jemand trotzdem ein Brötchen umsonst nimmt, heißt das Diebstahl. Hier beginnt eine Domäne des Staates: Polizei, Strafrecht, Gerichte, Gefängnis. Auch der Preis selbst ist ohne Vater Staat nicht denkbar. Denn damit die Menge an Geld angegeben werden kann, die fürs Brötchen anfällt, muss eben dieses Geld ja erst existieren – und das garantiert der Staat. Beides, Geld und Brötchen, hat außerdem Eigentümer, denn damit etwas getauscht werden kann, muss es jemandem gehören.
Auch dieses Eigentum ist ohne den Staat nicht zu denken.
Also, lieber Herr Theurer von der FDP, damit das Brötchen oder sonst irgendetwas Ware sein kann, damit es so was wie Markt überhaupt gibt, braucht es genauso viel Staat wie bei einer Planwirtschaft. Dass das eine und das andere unterschiedlich funktioniert, bestreitet niemand. Und aus diesem Unterschied resultieren auch die eigentlichen Fronten – die verlaufen nämlich nicht zwischen Markt und Staat. Sondern sind von unterschiedlichen Handlungslogiken von Staaten bestimmt.
Aus so einem Konflikt ist auch die heute viel gerühmte »soziale Marktwirtschaft« entsprungen. Sie war ein historischer Kampfbegriff zur Zurückdrängung sozialistischer Ideen. Ludwig Erhards Motto hieß, so viel Markt wie möglich, aber vor allem: so wenig Staat wie möglich. Man würde heute von Fake News sprechen. Denn die Staatswirtschaft, vor der jetzt manche Angst machen, die ist längst da. Ganz egal, was jetzt gerade die Schlagzeilen bestimmt.
Erschienen in OXI, Wirtschaft anders denken, Juni 2019, Seite 2