Marxistisches Fitneßtraining

150 Jahre ist es her, dass „Das Kapital“ von Karl Marx erschien, und noch immer, derzeit verstärkt, wird es lebhaft diskutiert. Das kann, muss nicht, ein Beleg dafür sein, dass die dort auffindbare Analyse der kapitalistischen Verhältnisse an Aktualität nichts eingebüßt hat. So wird der US-Ökonom John Kenneth Galbraith in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift der Bundeszentrale für Politische Bildung zitiert: „Hätte sich Marx vor allem geirrt, wäre sein Einfluss schnell verflogen. Die vielen Tausend, die sich hingebungsvoll dem Nachweis seiner Fehler gewidmet haben, hätten sich andere Beschäftigungen gesucht“.

Besagte Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ hat sich dem Thema „Das Kapital“ angenommen. Damit liegt die Bundeszentrale ganz im medialen Trend. Man mag dennoch über das geräuschlose Erscheinen dieses Heftchens, übrigens auch regelmäßiger Beileger in der vom Deutschen Bundestag herausgegebenen Wochenzeitung „Das Parlament“, erstaunt sein: Als die bei LehrerInnen beliebte Bundeszentrale für politische Bildung im Herbst 2015 ein alternatives Lehrbuch über Wirtschaft und Gesellschaft veröffentlichen wollte, sorgte dies für Aufhebens.

Kein geringerer als die Kapitallobby hatte seinerzeit interveniert. Das Buch sei zu einseitig und gegenüber Unternehmen zu kritisch. Das Innenministerium reagierte und erließ ein Vertriebsverbot. Auf der Website der Bundeszentrale stand fürderhin das Buch als „vergriffen“. Kurze Zeit drauf durfte es dann doch erscheinen, allerdings nur mit einem Hinweis darauf, dass sich dort nicht das ganze Spektrum der Ansichten zu ökonomischen Fragen widerspiegeln würde.

Wird diesem Anspruch kaum ein Standard-VWL-Lehrbuch gerecht, so doch immerhin ein bisschen jene Beilage zum Marx’schen Kapital. Was vielleicht erklärt, wieso es einspruchslos an Arbeitgebern und Innenministerium vorbeiging, obgleich es mit seiner historischen Erblast vielen noch immer als die Blaupause kommunistischer Schreckensherrschaft gilt und nicht als das, was es ist: eine Kritik der im 19. Jahrhundert gültigen Volkswirtschaftslehre, zugleich, bzw. im gleichen Atemzug, eine in ihrer Abstraktion zeitlos gültige Analyse der kapitalistischen Verhältnisse.

Das Spektrum der AutorInnen ist also breit, es reicht von Werner Plumpe, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Frankfurter Goethe-Universität, über taz-Wirtschaftsredakteurin Ulrike Herrmann und den marktliberalen Ökonom Hans Werner Sinn, der als einer der Ideengeber der Agenda 2010 gilt, bis hin zum Sprachartisten Dietmar Dath, den Wikipedia fast ein bisschen erschrocken damit zitiert, er habe auf die Frage, ob er für die „Beseitigung des kapitalistischen Systems“ sei, mit: „absolut“ geantwortet.

Den Einstieg in die Sammlung der Artikel, die beredt Auskunft geben über die bekannte Tatsache, wie unterschiedlich „Das Kapital“ verstanden werden kann, liefert Michael Quante, Philosophieprofessor an der Uni Münster. Sein „Traveller“s Guide“ führt auf sechs Seiten durch elf zentrale Aussagen im Kapital. Quante zitiert und erläutert sie. Er will damit das Programm der Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie in seinen Grundrissen kenntlich machen. Wichtig für Quante ist dabei, er betont es gleich zwei mal, dass Marx keine ökonomische Theorie im Sinne einer empirischen Einzelwissenschaft vorgelegt habe sondern eine kritische Sozialphilosophie.

Im Durchschreiten der Choreografie des Hefts wünscht man sich, manche der AutorInnen hätten Quantes Reiseführer zur Kenntnis genommen, ihre Beweisführung für Marx‘ Irrtümer und Schwachstellen bewegen sich mitunter auf eben jener Ebene, von der Quante sagt, genau darauf sei Marx‘ nicht zu reduzieren: auf eine Einzelwissenschaft.

Deutlich wird dies zum Beispiel an dem oft gesprochenen Urteil, Marx sei an der Arbeitswerttheorie gescheitert, von welcher wenigstens Ulrike Herrmann in ihrem Artikel noch erwähnt, dass es gar nicht Marx gewesen sei, der sich das ausgedacht habe, dass nämlich einzig Arbeit Quelle des Werts sei. Vielmehr haben die liberalen Ökonomen Adam Smith und David Ricardo diese Theorie entwickelt.

Hans Werner Sinn, unbeirrt, bezeichnet die Arbeitswerttheorie als eine der „größten wissenschaftlichen Fehlleistungen“ von Marx. Es sei schlichtweg falsch, dass sich die „Güterpreise …nach der in den Waren steckenden Arbeitszeit richten“. Nun, Marx würde dem in gewisser Weise sogar zustimmen, wenn er sagt, dass die tatsächlichen Austauschverhältnisse den bei der Produktion aufgewendeten Arbeitsmengen keineswegs entsprechen.

Marx hätte sich wahrscheinlich nicht auf die Frage festnageln lassen, ob es wirklich Arbeit sei, die Wert bildet. Schon zu seiner Zeit nervte ihn diese Frage, so liest man in seinem Brief an seinen Freund Ludwig Kugelmann: „Das Geschwatz über die Notwendigkeit, den Wertbegriff zu beweisen, beruht nur auf vollständigster Unwissenheit, sowohl über die Sache, um die es sich handelt, als die Methode der Wissenschaft. Dass jede Nation verrecken würde, die, ich will nicht sagen ein Jahr, sondern für ein paar Wochen die Arbeit einstellte, weiß jedes Kind. Ebenso weiß es, dass die den verschiedenen Bedürfnismassen entsprechenden Massen von Produkten verschiedene und quantitativ bestimmte Massen der gesellschaftlichen Gesamtarbeit erheischen. Dass diese Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen durchaus nicht durch die bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben, sondern nur ihre Erscheinungsform ändern kann, ist self-evident.“ (MEW 32, S. 522f.).

Es geht um etwas anderes als um den alten Streit, ob es Arbeit sei, die den Wert bildet, nämlich: In einer arbeitsteiligen Gesellschaft wird die Arbeit des Einzelnen (ich backe einen Kuchen) zu gesellschaftlicher Arbeit, wenn sie nicht die eines isolierten Individuums bleibt (ich backe den Kuchen nur für mich), sondern Arbeit für andere wird (ich backe den Kuchen, andere essen ihn). Es gilt überhistorisch, also immer, dass Gesellschaften untereinander aufteilen müssen, wer was, wofür und wieviel arbeitet und was davon wer in welcher Menge erhält. Es ist dies die Art und Weise, wie sich Gesellschaften überhaupt reproduzieren – eine Nation würde daher „verrecken, würde sie für nur wenige Wochen die Arbeit einstellen“. Es ist am Ende die Frage, die Gesellschaften historisch unterscheidet: Wie ist dies alles, diese „gesellschaftliche Gesamtarbeit“ organisiert?

Unter kapitalistischen Bedingungen wird die gesellschaftliche Gesamtarbeit über den Wert vermittelt, den Tauschwert, sprich, den Tausch: „Und die Form, worin sich diese proportionelle Verteilung der Arbeit durchsetzt in einem Gesellschaftszustand, worin der Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit sich als Privataustausch der individuellen Arbeitsprodukte geltend macht, ist eben der Tauschwert dieser Produkte.“ (Ebd.)

So nimmt im Kapitalismus Arbeit die Form des Werts an und die Antwort auf die Frage warum das so ist, übrigens, ist, wie Marx hervorhebt, seine originäre Denkleistung, die niemand vor ihm geleistet habe, nicht der Umstand, dass Arbeit Wert bildet. Wie nun aber der Wert im Verhältnis zum Preis steht, bzw. sich darin ausdrücken kann oder auch nicht, das ist nochmal eine andere Frage, die Marx am Wickel hatte.

Sinn übrigens liegt gar nicht weit weg von Marx, sicher ohne Absicht, wenn er sagt: „Schließlich versagt der Markt auch bei der Aufgabe, eine als gerecht empfundene Einkommensverteilung herzustellen. Deswegen muss die Marktwirtschaft durch eine sozialstaatliche Umverteilung von reich zu arm ergänzt werden.“

Zu sagen, der Markt versage bei der Aufgabe, Einkommen gerecht zu verteilen, wäre nun ungefähr dasselbe, wie zu sagen, der Staubsauger versage bei der Aufgabe den Rasen zu mähen. Es ist gar nicht seine Bestimmung.

Richtig aber ist, dass der Markt die gesellschaftliche Gesamtarbeit, also all dies, was durch gelungenen Tausch auf dem Markt Teil dieser Arbeit wurde, nicht etwa im Vornhinein nach, wenn man es so nennen will, Gerechtigkeitskriterien, geplant wird, sondern dem eher anarchischen und spekulativen Tausch überlassen wird: Wir investieren und gucken dann, ob es sich verkauft. Danach, also erst im Nachhinein, können oder müssen die politisch ungewollten Ergebnisse dieser Anarchie qua staatlicher Transferleistung kompensiert werden.

Dath nimmt in seinem Text Bezug auf diese explizite Anerkennung der Unzulänglichkeit des Marktes, wenn er schreibt: „….dass Momente, in denen Werte zerschlagen werden, weil sich für irgendwelche nun einmal produzierten Güter keine Abnehmer finden, nicht schön sind, erkennen inzwischen auch Nichtmarxisten an, sogar Wirtschaftsliberale. Sie sagen dann gern etwas wie: Ja, das ist bedauerlich, aber nur der Pferdefuß am immer noch besten System der Erzeugung und Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtreichtums, das je ersonnen wurde.«

Man kann das Heft der Bundeszentrale für politische Bildung über fast zwei Drittel als Dialog und Auseinandersetzung mit und zwischen verschiedenen Interpretationen lesen, man stellt dabei fest, es schadet überhaupt nichts, sich mit Schriften auseinanderzusetzen, die Marx einiges an Erkenntnishöhe zuerkennen, aber eben nur einiges und dazu die ihm vielfach zugewiesenen politischen Konsequenzen rund heraus ablehnen.

Um mit Dath in diesem Sinne abzuschließen: „Wer sich nicht gelegentlich der Herausforderung schlüssig ausgearbeiteter Gegenpositionen zu den eigenen Überzeugungen stellt, hat wahrscheinlich überhaupt keine diskussionswürdigen Überzeugungen.“ Sowas, so sagt er noch, „hält das marxistische Hirn fit“.

Erschienen im Marx200-Blog

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Herzlich Willkommen. Hier schreibt Sabine Nuss, Publizistin und Autorin, über die Welt des Kapitals, über Arbeit und Natur, über das Privateigentum, aber vor allem: Wie alles mit allem zusammenhängt, wie es uns bewegt, wie wir es bewegen. Manchmal auch über Alltägliches.

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